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„Warum ADHS keine Krankheit ist“, erklärt die Schweizer Pharmazeutin Amrei Wittwer im Interview mit dem Zwergerl Magazin. Ihre Streitschrift informiert über den Stand der Forschung und bricht eine Lanze für das gestresste Kind in unserer Hochleistungsgesellschaft.
Kinder, die nicht den Erwartungen von Erwachsenen entsprechen, nicht stillsitzen können oder häufig stören, werden in unserer Leistungsgesellschaft zu schnell zum medizinischen Problem. Sie erhalten eine ADHS-Diagnose und ein Rezept für Methylphenidat oder Amphetamin. Die synthetisch hergestellten Substanzen sollen Verhalten, Leistung und Lebensqualität optimieren. Eine ADHS-Diagnose allerdings birgt laut Wittwer keinerlei Nutzen, dafür aber viel Schaden und sollte überhaupt nicht mehr gestellt werden. Die verschriebenen Psychopharmaka wirken negativ auf die Entwicklung von Kindern, besitzen ein hohes Suchtpotential und werden gegen eine Krankheit eingesetzt, die eigentlich gar keine ist.
Schließlich weisen ADHS-diagnostizierte Kinder keine organische oder funktionale Störung auf, sondern eher alltägliche Defizite, Unreife und unerwünschtes Verhalten. Statt medizinischer Therapie empfiehlt Wittwer Zuwendung, Erziehung und Änderung von Lebensgewohnheiten und Tagesabläufen in der Schule und zu Hause. Pädagogische Fördermaßnahmen gewährleisten Erfolge ganz ohne Chemie, schwerwiegende Nebenwirkungen und Langzeitrisiken für die intellektuelle, emotionale, soziale, verhaltensbezogene und körperliche Entwicklung. Allein das Etikett ADHS verpasst dem Kind einen abwertenden Stempel, der Vorurteile und diskriminierendes Verhalten provoziert.
Frau Wittwer,
mit dem Etikett Pseudo-ADHS diskreditieren Sie eine weitverbreitete Praxis der Diagnose und Behandlung. Gelten Sie als Außenseiterin?
Das Buch enthält keine persönliche Meinung, sondern gültige, wissenschaftliche Fakten, die unumstritten sind. Eine Streitschrift ist mein Buch vor allem deswegen, weil die Fakten den Weg in die Praxis noch nicht geschafft haben.
Eine ADHS-Diagnose erfolgt zumeist auf Basis des DSM-5-Kataloges. Sind die darin aufgelisteten Verhaltensweisen normal oder zumindest harmlos?
Die Diagnose misst ausschließlich sozial unerwünschte Verhaltensweisen, also pädagogische Probleme, und ist extrem simpel. Ich selbst bekomme sofort eine ADHS-Diagnose, wenn ich den Test mache. Mir scheint störendes Verhalten ziemlich normal, aber nicht harmlos, wenn die Kinder als lästig empfunden werden und die Konsequenzen schlimm sind. Kinder nicht mit einer erfundenen Krankheit zu diagnostizieren und sie unter verschreibungspflichtige Drogen zu setzen bedarf einer gesellschaftlichen Neuorientierung.
Was passiert bei einer Stimulanzien-Therapie im Gehirn des Kindes?
Stimulanzien stören die Gehirnfunktionen. Das Gehirn bekommt ab erster Einnahme 20-30 Prozent weniger Blut, die Denkleistung wird verschlechtert. Psychostimulanzien euphorisieren, machen süchtig und sensitivieren das Belohnungszentrum auf Drogensucht.
Kennen Sie Fälle, in denen das Kind von einer Therapie profitiert hat?
Aktuell ist der Stand, dass nicht die Kinder, sondern die Akteure im Umfeld, die Treiber von Medikalisierungsprozessen in Medizin, Forschung, Pädagogik und Selbsthilfegruppen, profitieren.
Informieren Ärzte vorab umfassend über die Risiken einer Stimulanzien-Therapie?
Unsere Rohdaten haben gezeigt, dass Eltern in der Schweiz nicht einmal über die wichtigsten Kontraindikationen und Nebenwirkungen informiert werden.
Werden Eltern unter Druck gesetzt?
Den Eltern wird der Mythos des Neuroenhancement verkauft. Dabei verschlimmern Diagnose und Therapie die Zukunft des Kindes mit einiger Wahrscheinlichkeit. Den Eltern wird zumeist von der Schule gesagt, ihr Kind sei problematisch. Zugleich wird eine ADHS-Diagnose als Problemlösung angeboten. Das kann man dann schon als großen Druck empfinden.
Ein „krankes“, weil lebhaftes deutsches Kind wäre in Italien ganz „normal“?
Die Diagnosekriterien sind subjektiv, hängen von den bewertenden Personen und Umständen ab. Nicht nur in manchen Ländern, auch in Städten sind die Kräfte der Medikalisierung beispielsweise größer. So wird ein Kind nur durch den Umzug vom Land in die Stadt auffällig.
Mit welchen Komplikationen muss bei der Therapie gerechnet werden?
Es gibt eine lange Negativ-Liste: Die Substanzen sind giftig für die Organe, reduzieren den Sauerstoffverbrauch des Gehirns, den Appetit, machen süchtig, verschlechtern die kognitive Leistung, verursachen Depression, eine chemisch induzierte Aufmerksamkeit und Gefügigkeit, Suizidalität, eine Verwandlung zum „Zombie“.
Wann sollte eine Therapie abgebrochen werden?
Die Therapie muss jedenfalls nach zehn Wochen durch langsamen Entzug abgesetzt werden. Die Einnahme ist laut Arzneimittelinformation nicht erlaubt, wenn das Kind nervös, also hyperaktiv, ist, nur in bestimmten Situationen leidet oder zur vermeintlichen Leistungssteigerung – genau dann werden diese Mittel jedoch am häufigsten eingesetzt. Ein Abbruch ist außerdem beim Einsetzen neuer psychischer Symptome wie Depression, bei Appetit- und Gewichtsverlust, Wachstumsrückstand, Blutdruck- und Herzfrequenz-Erhöhung und Schlafstörungen angezeigt.
Wäre eine Therapie in schweren Fällen vertretbar?
Eine Verschreibung von Stimulanzien ist in keinem Fall sinnvoll, auch nicht bei schweren Fällen von ADHS.
Eltern sollten sich vor einer Therapie ganz genau informieren. Welche Anlaufstellen gibt es?
Ich empfehle den Eltern mein Buch und sich anschließend weiter zu informieren. Die Ansprechpersonen sind beispielsweise Erzieher, Sozialarbeiter, Sozial- oder Heilpädagogen, Psychologen und Familientherapeuten.
Welches sind die größten Stressoren im Leben unserer Kinder?
Unsere auf Leistung und noch mehr Erfolg ausgerichtete Erziehungs- und Bildungspraxis. Den Eltern ist dieser Stress selten bewusst. Der Stress zeigt sich mit klassischen Burnout-Symptomen wie Schmerz und Schlafstörungen oder mit ADHS-artigem Verhalten.
Haben Eltern überhaupt eine Chance, ihr Kind vor ADH-auslösenden Stressoren zu bewahren?
Lehrer und Eltern müssen sich der Stressoren des Kindes bewusst werden. In meinem Buch finden sich pädagogische Hinweise zum Familienleben und zur Führung im Klassenzimmer. Außerdem können die Erwachsenen verhindern, dass das auffällige Verhalten der Kinder zu ADHS umgedichtet wird und ihnen eine Krankheitsgeschichte ersparen.
Was möchten Sie Eltern sagen, deren Kind unterdurchschnittliche schulische Leistungen erbringt?
Lernstörungen sind keine Krankheit. Stimulanzien verschlechtern die kognitive Leistung und die schulische Karriere der Kinder. Eltern müssen nicht unkritische, aber verlässliche Verbündete, Beschützer ihrer Kinder sein. Geduld ist sicher ein guter Ratgeber. Was Hänschen heute nicht lernen mag, ist morgen vielleicht obsolet. Was uns wichtig erscheint, lernen wir freiwillig.
Wie reagieren Eltern bei auffälligem Verhalten richtig?
Die Lebensumstände des Kindes analysieren und durch Arbeit an Lebensqualität und Konfliktlösung Verbesserungen herbeiführen. Dazu gehört genügend Freizeit und Spiel, gesunde Ernährung, emotionale Nähe, moralische Führung und Schlaf. Das ist und bleibt harte Arbeit.
Sie weisen darauf hin, dass viele junge, noch unreife Kinder in die ADHS-Falle tappen.
Bis das Krankheitsbild ADHS abgeschafft ist, sollten Lehrer keine Kinder zur Abklärung senden und Ärzte Kinder lieber zu pädagogischen Fachkräften weiterleiten.
Sie empfehlen Elterntraining und pädagogische Förderung statt Medikamente. Lassen sich Eltern gerne in ihre Erziehung hineinreden?
Viele Eltern suchen Unterstützung, sie werden ja nicht als Eltern geboren. Ohne Kenntnisse geht es nicht. Die braucht man ja auch, um ein Auto zu fahren, einen Greifvogel zu halten oder einen größeren Hund.
Noch dazu sollen sich Eltern als Teil des zu lösenden Problems betrachten.
Eltern, die sich fragen, was sie selbst beitragen können, damit es ihrem Kind besser geht, sind auf dem richtigen Weg
Haben wir das Erziehen verlernt?
Wie kommen wir Erwachsenen auf die Idee, dass wir von selbst fähig sind, alle Kinder entsprechend ihren Bedürfnissen zu erziehen und zu fördern? Das Wissen ist da, es muss aber gelesen und umgesetzt und gegen andere Interessen verteidigt werden.
Zum Weiterlesen:
Amrei Wittwer,
Warum ADHS keine Krankheit ist – Eine Streitschrift
erschienen 2019 im Hirzel Verlag, 29 Euro,
ISBN 978-3-7776-2761-8,
E-Book: PDF. 29 ISBN 978-3-7776-2781-6